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GEA, 13.09.2007
Ein Erfolgsmodell der Evolution
Schädlinge – In Reutlinger Kanälen tummeln sich Tausende Ratten. Vermutlich so viele, wie die Stadt Einwohner hat.
Die Vermutung, Ratten könnten- ähnlich wie Schaben – selbst eine atomare Verseuchung überleben, hält Günther Salscheider für nicht abwegig. „Die Tiere sind extrem anpassungsfähig, schlau und vorsichtig. Und sie vermehren sich explosionsartig, wenn man sie lässt.“ Aber Salscheider lässt sie nicht. Der 43- Jährige ist Chef eines Gebäudedienstunternehmens mit annähernd 130 Mitarbeitern. Asbestsanierung, das Beheben von Brandschäden und diverse Reinigungsdienste gehören unter anderem zum Leistungsprofil dieses seit 1911 in Reutlingen ansässigen Unternehmens. Darüber hinaus ist der gebürtige Koblenzer staatlich geprüfter Schädlingsbekämpfer.
Sechs Monate dauert der Lehrgang an der Fachschule in Mainz, den Salscheider mit einer Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer abgeschlossen hat. Und Fachwissen ist nötig, weil der Gegner, mit dem er es zu tun hat, nicht von Pappe ist. Die Rede ist von Wanderraten (Rattus norvegicus), einer Spezies, die vor der Ausrottung der eigenen Familie nicht haltmacht. Die nächsten Verwandten, die Hausratten (Rattus rattus), wurden jedenfalls sauber abserviert. In Europa gilt die Hausratte als nahezu ausgestorben. „Sie wurde von der größeren Wanderratte verdrängt“, sagt Salscheider, der gehörigen Respekt vor den Nagern hat.
Ratten sind seit Jahrhunderten Symbole des Bösen. Zahlreiche, teilweise lebensbedrohliche Krankheiten werden von ihnen übertragen: Leptospirose, eine Infektionskrankheit und die Pest, die zwar vom Rattenfloh (Xenopsylla cheopsis) auf den Menschen übergeht, dessen Wirte aber Ratten sind. Auch Erkrankungen wie Typhus, Cholera, Ruhr, Tuberkulose, Trichinose und Maul- und Klauenseuche können auf das Konto von Ratten gehen.
Wanderratten sind Allesfresser, ihre Fähigkeiten legendär. Sie pressen sich durch winzige Löcher. Sie klettern und schwimmen gut und verfügen über einen ausgezeichneten Tast- und Geruchssinn. Die Tiere bewegen sich in sozialen Formationen, springen mehrere Meter weit und bis zu anderthalb Metern hoch. Aus dem stand und ohne Ansatz.
Ratten sind Erfolgsmodelle der Evolution. Nach etwa sechs Wochen sind sie geschlechtsreif und bringen es einschließlich der Kinder und Kindeskinder pro Jahr auf bis zu 600 Nachkommen. Sie nagen sich durch Beton und Blech und leben in hierarchisch gegliederten Familien mit bis zu Köpfen. Sie erreichen eine Kopf-Rumpf-Länge von etwa Zentimeter und Gramm eine Schwanzlänge von bis zu 25 Zentimetern. Normale Exemplare wiegen zwischen 500 und 700 Gramm, Brummer bringen es auf eineinhalb Kilo.
Ihre Zahl lässt sich nur schätzen. „ In Städten wie Reutlingen geht man von einem Faktor von 0,5 bis 1 aus“, sagt Salscheider. Demnach leben in der Kernstadt zwischen 35000 und 70000 der pelzigen Nager. In Metropolen wie New York gehen Fachleute vom Faktor 1,5 aus. Die Behörden in New York City, der bevölkerungsreichsten Stadt der Vereinigten Staaten, haben es mit 12 Millionen Tieren zu tun. Tendenz steigend.
„In Reutlingen hat die Population im vergangenen Jahr zugenommen. Das dürfte am milden Winder liegen, der eine Dezimierung der Tiere auf biologische Art verhindert hat.“
Seit ein paar Wochen sind deshalb Salscheider und seine Mitarbeiter im Auftrag der Stadt in Reutlingen unterwegs, um Köderboxen auszubringen. „Wir machen das zweimal im Jahr, wobei wir uns auf die oberirdische Bekämpfung spezialisiert haben. Für die Kanäle ist das Tiefbauamt zuständig.“ In schwarzen Boxen aus Hartplastik, die angekettet und abgeschlossen werden, liegt ein Rodentizid, ein chemisches Mittel zur Bekämpfung von Nagetieren. Unabhängig vom Fabrikat basieren die Fressköder auf Cumarindervaten wie Bromadiolon, Brodifacoum, Difenacoum oder Warfarin, also auf Wirkstoffen, die alle eine Eigenschaft haben: Weil sie die körpereigene Vitamin-K-Synthese verhindern, hemmen Cumarine die Blutgerinnung.
Mit diesem Gift werden die Tiere ausgetrickst: Ratten haben Vorkoster. Sterben diese, rühren andere den Köder nicht an. Gegen Giftriegel mit Cumarinderviaten nützt ihnen dieses Vorgehen nichts. Tiere, die von den Ködern gefressen haben, verbluten innerlich nach drei bis vier Tagen, ohne dass andere Ratten die Ursache für den Tod der Artgenossen mitgekommen. Der Nachteil: Es gibt einige Ratten, die gegen dieses Gift mittlerweile immun sind.
Dank einer Veränderung im Erbgut kann diesen Tieren Warfarin, das seit 1953 auf dem Markt ist, nichts mehr anhaben. Ihre Blutgerinnung wird nicht zerstört. Längst wurden deshalb andere Wirkstoffe entwickelt.
Aber auch gegen Rattengifte der zweiten und dritten Generation sind manche Ratten resistent. Diese Entwicklung betrachten Experten mit Sorge. „ Vor allem in Norddeutschland und der Lüneburger Heide, wo es Sumpflandschaften und damit viele Ratten gibt, wurden Resistenzen beobachtet“, sagt Salscheider. „Im Süden dagegen wirken die Gifte nach wie vor.“
Einmal immun, immer immun? „Nein“, sagt Salscheider. „Resistenzen werden im Laufe der nächsten Generationen abgebaut, sofern die Tiere den Giftstoff, gegen den sie unempfindlich wurden, nicht mehr zu fressen bekommen. Das setzt einen regelmäßigen Wechsel des Giftstoffes voraus“ – und hier schlummert ein anderes, weiß größeres Problem.
„Es ist ein Unding, dass in Deutschland diese hochwirksamen Rattengifte in Baumärkten oder Gartencenter verkauft werden. Niemand fragt nach Personalausweis oder Befähigungsnachweis. Aber nur wer den hat, darf nach dem Gesetz Wirbeltiere töten. Der freie Verkauf an jedermann ist jedenfalls ein Missstand, der zum Himmel stinkt.“ Wenn Laien mit Rattengift fuhrwerken, sind die Risiken nämlich immens. „Wird es zu hoch dosiert, schädigt es die Umwelt. Ist die Dosierung zu niedrig , werden die Tiere immun. Schädlingsbekämpfung ist deshalb Sache von Fachleuten.“
Dass Ratten in Großstädten mitunter zur Plage werden, liegt aber auch an der Unvernunft der Menschen. „Durch die falsche Lagerung von Abfällen haben wir uns die Tiere von den Müllkippen in die Städte geholt.“ Lebensmittelreste in Joghurtbechern, Pizzaschachteln, Dosen und Plastiktüten, flugs entsorgt im gelben Sack, sind Ratten ein gefundenes Fressen.
„Weit wichtiger für die Vermehrung der Tiere als die klimatischen Bedingungen ist das Nahrungsangebot – und das ist in Großstädten reichlich. Je vermüllter eine Stadt, um so höher die Population und um so größer ist der Aufwand, das Rattenproblem in den Griff zu bekommen.“ Wer Lebensmittel in die Toilette kippt, versorgt ganze Rattenfamilien mit erstklassigem Futter. Salscheider rät deshalb dringend dazu, Speisereste sicher zu entsorgen.
Immerhin: „Es liegt heute weniger Müll auf der Straße als früher. Dazu beigetragen hat auch das Pfandsystem für PET-Flaschen und Getränkedosen. Nur wenn wir den Ratten die Nahrung entziehen, geht die Population zurück. Mit Gift allein ist ihnen nicht beizukommen. Dezimieren ja, ausrotten nein“, sagt Salscheider, der auch eine Lanze bricht für diese faszinierenden Tiere: Millionen Ratten halten Jahr für Jahr den Kopf hin, damit es dem Menschen besser geht. „Ohne Ratten wäre die Entwicklung von Medikamenten oder Kosmetika undenkbar.“ (GEA)
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